Virtual Klezmer

Klezmer in Deutschland
Klezmer in der Deutschen Demokratischen Republik

(Besprechung: Heiko Lehmann)

Die politische Situation im östlichen Teil Deutschlands
Die sowjetisch besetzte Zone hatte gleiche Bedingungen nach der Niederlage 1945 wie der westliche Sektor. Durch immense Reparationsleistungen an die Sowjetunion war der Ausgangspunkt für einen Neuanfang jedoch bald im traditionell schwächer industrialisierten Osten ungünstiger als im Westen. Die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 als Antwort auf die Gründung der BRD einige Monate früher isolierte das Land politisch vom Westen. Mit der Roten Armee im Land blieb den Gründern keine andere Wahl, als sich an das Russland Stalins zu binden und die DDR zum sowjetischen Satellitenstaat zu machen. Daß die Sowjetunion anfangs mit Schwierigkeiten rechnete, zeigt die Tatsache, daß sie den Sohn des 1. Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, in einem ehemals faschistischen (nun sowjetischen) Internierungslager als Geisel festhielten. Schon bald drängte man sich danach, zu Willen zu sein - und das betraf auch den paranoiden Judenhaß des ehemaligen Seminaristen Dlugaschwili.

Juden in der DDR
Die diesbezügliche Politik entvölkerte die jüdischen Gemeinden der DDR weitestgehend, vor allem bis zum Bau der Mauer und nach dem Sechs-Tage-Krieg flohen jüdische DDR-Bürger aus dem Land. Der Slansky-Prozeß in Prag hatte den paranoiden Charakter des Umgangs mit Juden gezeigt, und die Angst, Ähnliches könne in der DDR geschehen, war begründet. Gab es nicht in Polen schon unmittelbar nach der Befreiung der Konzentrationslager wieder Pogrome?

Anfänge jüdischer Musik in der DDR
Und doch existierte in der DDR so etwas wie ein offizielles jüdisches kulturelles Leben. Die nach ihrer Befreiung aus dem KZ mit ihrer Familie in die DDR ausgewanderte Amsterdamer Jüdin Lin Jaldati hatte im KZ Jiddisch gelernt und sang jiddische Lieder vor einem deutschen Publikum in der DDR. Lin Jaldati war überzeugte Kommunistin, sie stellte ihre Kunst in den Dienst der DDR, doch ihre Warmherzigkeit, Ehrlichkeit und ihre Ausstrahlung ließen sie ihr Publikum außerhalb offizieller Veranstaltungen finden. Lange Zeit war sie, die von ihrem Mann Eberhard Rebling am Klavier begleitet und später mit ihren zwei Töchtern Katinka und Jalda auftrat, die einzige Interpretin jiddischer Lieder in der DDR. Nach Israels Sechs-Tage-Krieg bekam sie ein Auftrittsverbot, weil alles Jüdische unter dem Verdacht stand, zionistisch zu sein.

Und doch begann sich sehr langsam in der DDR eine kleine Gruppe von Menschen herauszukristallisieren, die sich jiddischer Literatur und Musik zuwandten (u.a. auch Wolf Biermann). In den achtziger Jahren konnte man durch die Hinzugewinnung einer Reihe jüngerer Leute bereits von einer eigenen Szene sprechen.

Die folgenden Namen sind lediglich Beispiele: Der Dichter Jürgen Rennert stieß auf der Spurensuche deutschen Kultur- und Menschenhasses auf Jiddisch und wurde zu einem der besten deutschen Nachdichter aus dem Jiddischen. Unter anderen übersetzte er Scholem Alejchem, Mark Rasumny und den rumänischen Dichter und Chefdramaturgen des Bukarester Jiddischen Theaters, Israel Bercovici. Er war 1987 Mitbegründer der (Ost-Berliner) "Tage der jiddischen Kultur" (u.a. mit Lin Jaldatis Tochter Jalda) und hat wesentliche Impulse für die Beschäftigung mit jüdischer Kultur gegeben (siehe auch: www.rennert.de).

Ilona Schlott in Leipzig stellte jiddische Liedprogramme zusammen. Dieter Pichowski aus Magdeburg war gleichfalls Sänger, der sich vor allem mit der Liturgie beschäftigte. In Leipzig existierte der Leipziger Synagogalchor, dessen Mitglieder allesamt nichtjüdisch waren. Gleichfalls in Leipzig lebte Hubert Witt, der aus dem Jiddischen übersetzte und 1978 die Sammlung "Der Fiedler vom Getto" herausbrachte.

Seit Anfang der Achtziger beschäftigt sich der Berliner Karsten Troyke mit jiddischen Liedern. Er war der erste, der diese Lieder nach dem Vorbild von Esther Ofarim und Peter Roland in einen internationalen Kontext stellte (das er "Eigene Lieder und Lieder der Welt" nannte und mit dem er Anfang der neunziger Jahre in einer festen Veranstaltungsreihe Erfolge feierte). Troyke lernte Jiddisch und war Mentor einer ganzen Reihe von Ostberliner SängerInnen (u.a. Suzanna).

1984 gründete sich ein Trio namens AUFWIND, das neben jiddischen Liedern ein Hauptaugenmerk auf deren Instrumentierung und Arrangement legte. 1988 verstärkte man sich mit einem Klarinettisten und einen Bassisten, womit das meines Wissens erste deutsche Nachkriegs-Klezmerensemble geboren war. Die Materialsuche war schwierig. Westliche, vor allem amerikanische, Quellen standen nicht zur Verfügung, Platten aus dem Westen kamen oft nicht an (AUFWIND waren in Kontakt mit Manfred Lemm), in der DDR gab es nicht viel. Da der Weg nach Westen versperrt war, ging man nach Osten und suchte dort nach Spuren jüdischen Lebens. Meist fand man nur Spuren ehemaligen Lebens, doch es gab Überlebende in Bukarest und Warschau, die mit den "anderen Deutschen" sprachen, sich die Lieder anhörten und sie ermutigten, weiterzumachen.

Zwischen Ostdeutschen und Osteuropäern gab es ein Zusammengehörigkeitsgefühl, einmal das "Wir sitzen alle in derselben Kacke", zum anderen lernte jeder DDR-Bürger Russisch als Pflichtfach in der Schule, was in Polen, Ungarn, der CSSR und Rumänien zwar unbeliebt (weil gleichfalls Pflichtfach) war, aber Verständigung ermöglichte. Die Beweggründe der Ostdeutschen, sich mit jüdischer Kultur zu beschäftigen, waren verschieden, doch kaum von Schuldgefühlen bestimmt. Für einige war es die Faszination, die von der Musik ausgeht, für andere aber eine Abgrenzung zur offiziellen DDR-Kultur. Die DDR, die sich zum Vertreter aller ehemaligen Faschismus-Opfer erklärt hatte, konnte jiddische Lieder schlecht verbieten, ohne sich unglaubwürdig zu machen. Sie unterstützte die Szene aber auch nicht.

Der gesamte antifaschistische Widerstand wurde für die Kommunisten zu reklamiert, daraus folgte:Die Sozialdemokratie war die "Spalterpartei" (sie hat die Arbeiterklasse gespalten), der 20. Juni 1944 war der hilflose Versuch des Bürgertums, die außer Kontrolle geratenen Dinge viel zu spät zu ändern. Die Juden waren widerstandslose Opfer, die von der Roten Armee befreit werden mußten (siehe auch Bruno Apitz´s Roman "Nackt unter Wölfen"; der Pflichtliteratur in den Schulen war).

1989 unternahm die DDR, viel zu spät, den Versuch, die musikalische Annäherung einer neuen Generation an jüdische Kultur für ihre Politik zu nutzen. Das einzige DDR-Label brachte die erste AUFWIND-Platte heraus. Der Chefproduzent des Labels stand dem Jiddischen reichlich hilflos gegenüber; schließlich verlangte er, den Sholem-Secunda-Titel "Wot ken ju mach? Ess is Amerike!" zu streichen, weil der ihm wegen des Wortes "Amerike" suspekt war. AUFWIND lehnten das ab, und die Platte erschien vollständig.

Es war 1989, und dem System ging die Puste aus.

Nach 1990: Klezmer im vereinigten Deutschland

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