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Klezmer! From Old World to Our World

(Besprechung: Heiko Lehmann)

Klezmer! From Old World to Our World

Henry Sapoznik
Schirmer Books
New York, 1999

Über Jahre gab es, neben dem Standardwerk für Musiker (Sapoznik/Sokolov: The Compleat Klezmer, Tara Publications 1987) und dem Standardwerk für Musikethnologen (Slobin, Mark [Übers. u. Hrsg]: Old Jewish Folk Music [The collections and writings of Moshe Beregovski], University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1982) kaum Literatur zu Klezmer-Musik. Oft genug war man auf oft gute, manchmal schlechte Annotations auf Platten und CD-Booklets angewiesen. 1999 kam mit Susan Bauers Von der Khupe zum KlezKamp. Klezmer-Musik in New Yorkeine erste Buchveröffentlichung auf den Markt, die sich mit dem Klezmer-Revival befaßte. Das Vorwort dazu, welches die Autorinpreist, stammte von Henry Sapoznik, und selbiger legt nun noch im gleichen Jahr ein eigenes Buch über die Geschichte der Klezmer-Musik und des Klezmer-Revivals vor.

sapoznik

Sapoznik ist selbst einer der Pioniere des amerikanischen Klezmer-Revivals, und als solcher steht es ihm zu, den Begriff “Revival” in Frage zu stellen. Für ihn ist es keine Wiederbelebung, weil Klezmer-Musik in Amerika nie tot war, lediglich unter der kulturellen Oberfläche weiterwirkte.
Musiker und Forscher wie Andy Statman, Bauer und Slobin stimmen darin überein, doch wird es schwer werden, den eingebürgerten Begriff Revival zu ersetzen. Sapoznik produzierte zahllose CD´s mit Klezmer-Musik (herausragend z.B. seine Dave-Tarras-CD), gründete 1979 mit Kapelye (New York) eine der ersten Klezmer-Bands und spielte vier Alben mit ihr ein (vor wenigen Monaten stieg er bei Kapelye aus) und begründete die Sound Archives im New Yorker YIVO-jüdisches wissenschaftliches Institut.
Er war jiddischer Moderator der legendären Forverts Hour bei WEVD (denen es heute peinlich ist, nach dem Sozialisten Eugene V. Debs benannt zu sein) und zusammen mit Andy Lanset forschte er über amerikanisch-jiddisches Radio von 1920-1950 (siehe auch die letzte Kapelye -CD Kapelye on the Air, Shanachie 1995).

Sein Buch kann grob in zwei Hauptteile gegliedert werden, die jeweils ungefähr eine Hälfte ausmachen. Der erste Teil beschäftigt sich ausführlich mit der Geschichte von Klezmer-Musik von den ersten schriftlichen Quellen aus dem Mittelalter bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts. Sapoznik beweist sich in diesem Teil als guter Historiker und geschickter Schriftsteller.
So führt er einen Nebenstrang ein, der in Rowne/Ukraine spielt, einer ehemalig “jüdischen” Stadt, aus der seine Familie stammt. Rovne war bis zum 2. Weltkrieg berühmt für seine chassonim, seiner Kantorentradition, und Sapoznik stammt aus dieser Familie: sein Vater, Zindel Sapoznik, der zusammen mit seiner Frau nach dem Krieg in die USA emigrierte, war der letzte Rovner chasn (Kantor) und erzog seine Söhne in dieser Tradition.
Dies ist wichtig, weil die orale Tradition Grundlage von Klezmer-Musik ist. Neue Entwicklungen im Bereich der Musik werden über lange Zeit an konkreten Personen und Ensembles aus Rovne gespiegelt (Status der Klezmer-Kapellen, Wechsel des Instrumentariums, Rolle und Verschwinden der badchonim [Hochzeitsunterhalter]  usw.).
Damit wird auch dem interessierten Laien die Möglichkeit gegeben, pure Musikgeschichte (die es im Buch auch gibt) nachzuerleben. Es werden die Biographien der bedeutendsten Vertreter des Genres nachgezeichnet und ihr Einfluß auf den herrschenden Zeitgeist beschrieben. Faszinierend in beiden Teilen ist Sapozniks Unternehmen, die Interdependenz zwischen musikalischen, regionalen, sozialen, politischen und kommerziellen Gegebenheiten und Veränderungen aufzuzeigen

Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Klezmer-Revival, dem Wiederaufleben der Musik beginnend Mitte der siebziger Jahre in den USA, an welchem Sapoznik als Pionier selbst großen Anteil hatte. So wird diese Geschichte auch zu seiner eigenen. Sapoznik ist intimer Kenner der Musik und der dazugehörenden Szene.
Er beschreibt, wie durch die Roots-Bewegung und die Hinwendung zu traditioneller und Folk-Musik in Amerika jüdische Musiker aus der Folk-, Dixiland- und Bluegrass-Szene plötzlich auf die Suche nach eigenem musikalischen Wurzeln aufbrachen, wie sie erstaunt bemerkten, daß diese Wurzeln in den alten Meistern der Klezmer-Musik zum Teil noch lebendig waren, daß sie zum Teil (Dave Tarras, Leon Schwarz u.a.) vergessen um die Ecke in Brooklyn wohnten und den Jungen versuchten, diese Musik auszureden: sie sollten doch bitte lieber etwas Seriöses lernen.
Er geht auf den Einfluß des Revivals auf Europa, insbesondere Deutschland, ein und zeigt auf, wie plötzlich mit dem Aufleben der Musik auch die Traditionen wiedererstarkten, in denen Klezmer als vordergründige Gebrauchsmusik (Tanz- und Hochzeitsmusik) ursprünglich lebte und trotzdem eine neue Funktion als Konzertmusik behielt. Sapoznik untersucht die verschiedenen Richtungen, in die sich das Revival mittlerweile unterteilt (von Traditionalisten über chassidischen Punk bis zu den Puristen), Klezmers neue Bedeutung in kommerzieller Kultur (z.B. verkaufte Itzhak Perlman die Klezmer-CD “In the Fiddler´s House” international mehr als 250.000 mal) und Konzepte, jiddische Kultur wieder allgemein zugänglich werden zu lassen.

Im ersten Anhang geht Sapoznik ausführlich die “jüdischen” Tonarten und Tonleitern ein, ein zweiter Anhang stellt die bekanntesten Tänze vor. Es gibt ein Glossar, das verwendete jiddische und hebräische Begriffe erklärt.

Klezmer! From Old World to Our World ist bereits jetzt unabdingbares Standardwerk für alle, die sich auf irgendeine Art für Klezmer-Musik interessieren. Es wird die Grundlage für eine Reihe weiterer Bücher über das Genre sein, und es wird darüber gestritten werden.
Es ist die erschöpfendste Lektüre über das Thema und, das ist unstrittig, der umfangreichste und gelungenste Versuch einer Gesamtdarstellung. Die Idee einer deutschen Ausgabe wird bereits geprüft.
Das Buch ist Ende 1999 erschienen..

 

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