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3. Ashkenaz Festival in Toronto 1999

Besprechung (Heiko Lehmann)

Vom 30. August bis zum 6. September 1999 fand im Harbourfront Centre in Toronto/ Kanada das 3. Ashkenaz Festival, A Festival of Yiddish Culture statt, das wohl größte seiner Art weltweit.

Der folgende Exkurs von  Heiko Lehmann umfaßt einige Events der ersten vier Tage des Festivals.

ashkenaz festival

August 30

Klezmer Conservatory Band
Hankus Netskys KCB eröffnete das Festival musikalisch abends 9 Uhr auf dem Molson Place, einer Open-Air-Bühne mit ca. 2000 Sitzplätzen (das Harbourfront Centre wird vom kanadischen Bier-Multi Molson gesponsort und verkauft bedauerlicherweise auch nur dessen Produkte).  Die Band war ausverkauft, die Karte kostete für Besucher 25 kanadische Dollar. Die Bostoner sind eine sichere Bank für Großkonzerte, das Publikum liebte sie; mehrere Zugaben erfolgten. Deborah Strauss (vom Chicago Klezmer Ensemble) ist nun die Geigerin der Band, wodurch es kurioserweise jetzt einen wahrnehmbaren Einfluß der “Traditionalisten” innerhalb der KCB gibt (Jeff Warschauer unterstützt dieses Konzept). So konnte man denn eine Gesangsbearbeitung des “Yismekhu” mit Judy Bressler und Deborah Strauss erleben. Durchaus denkwürdig.

Deb Margolin: O Wholly Night and Other Jewish Solecisms
Deb Margolin ist Schriftstellerin, lebt in New Jersey und hat eine Reputation als Performerin. Ihre Texte haben mir allerdings besser gefallen; die Performance bestand im regelmäßigen Standortwechsel von Sessel (links) und Tisch (rechts), auf dem sie sich dann räkelte, was aber der Veranstaltung durchaus Würze gab. Das Stück ging wieder einmal der Frage nach, was es bedeutet, Jude zu sein. Margolin ist zu gut, um sich mit den Klischees zufriedenzugeben; Jude sein heißt für sie, in allen Lebensumständen auf den Messias zu warten. Was das wiederum bedeutet, erläuterte sie intelligent, teilweise witzig, auf jeden Fall unterhaltsam.

August 31

Flying Bulgar Band (das “Klezmer” wurde aus dem Namen herausgenommen)
( siehe Plattenbesprechung “TSIRKUS” - in Vorbereitung)

Aufwind
Aufwind spielten um 21.30 Uhr auf der Lakeside Terrace, und sie meisterten ihr Kanada-Debüt. Sie hatten sich für eine clevere Mischung aus bekannteren und unbekannteren Liedern, straight forward klezmer und eigenen, schwierigeren Arrangements entschieden, und diese Rechnung ging auf. Das fast ausschließlich jüdische Festivalpublikum war gespannt, wie die Nichtjuden, die Deutschen, die Musik wohl spielen würden, das konnte man spüren, und was sie hörten übertraf offensichtlich all ihre Erwartungen. Tatsächlich ist die Qualität der Band, einschließlich die des Jiddischen der Sänger, um einiges höher als die so mancher nordamerikanischen Combo. Aufwind waren anfangs deutlich nervös, doch das gab sich bei zunehmender und spürbarer Akzeptanz durch das Publikum (Lakeside Terrace war voll). Am Ende bekamen sie eine standing ovation. Nach zwei Auftritten in den USA war dies das dritte Konzert in Nordamerika; neben Jiddisch sollte sich die Band nun auch stärker mit Englisch beschäftigen. Aufwinds Auftritt wurde vom Goethe-Institut in Toronto gesponsort.

Paradox Trio
Großartiges Konzert in hervorragender Stimmung im Brigantine Room. Das Trio plus Mr. Matt “Paradox” Darriau besteht aus Musikern, die sich seit Jahren nicht nur in NYC, sondern international einen herausragenden Ruf erspielt haben. Live noch viel besser als auf CD (1995 bei Knitting Factory Works erschienen).

September 1

Golus Storytheatre (Toronto-Berlin):
“I Just Wanna Jewify” The Yiddish Revenge on Wagner
Man stelle sich vor, Richard Wagner hätte mit seinem Antisemitismus recht gehabt und man nähme “Das Judenthum in der Musik” ernst. Michael Wex hat daraufhin den “Ring” neu geschrieben. “Ein junger Kantor namens Moischmut begibt sich zu Fuß nach Hochstuß am Rhein, um an einem Wettkampf teilzunehmen, der von Helbagel, dem bald schon pensionierte Kantor der Stadt, organisiert wird. Der Sieger wird Kantor von Hochstuß und bekommt Helbagels Tochter, Schprintzelinde, zur Frau...” Neben Michael Wex und meiner Wenigkeit waren dabei: Denise Williams (Sopran), Dave Wall (tenor), Sasha Luminsky (Klavier). Regie: Jennifer Romaine (von Great Small Works, New York). Das Studio Theatre war voll, man amüsierte sich allenthalben.

September 2

Willy Schwarz “Jewish Music Around the World”
Willy Schwarz ist ein Hexer, der das Publikum zu verzaubern weiß, und das tut er auch in diesem Programm. Schwarz ist ein sehr interessanter Musiker. Er tourte mit Elvis Costello und Tom Waits (siehe Waits´ Live-Album “Big Time”), aber auch mit Theodor Bikel und Brave Old World, war Theatermusiker und Alan Berns erster Akkordeonlehrer. Und vor einigen Monaten ist er nach Bremen gezogen. “Jewish Music Around the World” hält was es verspricht, begleitet wurde Schwarz von einem Kollegen, mit dem er zwanzig Jahre zuvor in Bloomington/Indiana aufgetreten war: Torontos Rick Shadrach Lazar, ein sehr guter Percussionist. Willy Schwarz´s Vielseitigkeit unterstreicht sein soeben in Deutschland erstveröffentlichtes erstes Solo-Album “Live for the Moment”, für mich ein potentielles “Album des Jahres”.

Dave Douglas & Charms of the Night Sky
Im gerade mal so gefüllten Brigantine Room fand um 22.00 Uhr das musikalische Ereignis des Festivals statt, und es hatte nichts mit Klezmer zu tun. Die Produktion des Werkes wurde (lt. Programmheft) von Ashkenaz “in tribute to Dave Tarras” unterstützt, das klingt verdammt nach einer Ausrede (der künstlerische Leiter des Festivals, David Buchbinder, Trompeter wie Douglas, möchte gern bei Douglas Unterricht nehmen). Aber es war großartig: Dave Douglas an der Trompete, der legendäre Greg Cohen am Kontrabaß, Mark Feldman (Geige) und Guy Kluscevek am Akkordeon – es war das Beste, was ich je an Freejazz sah. Jeder der Musikanten spielt scheinbar sein Eigenes, jeder in einem anderen Rhythmus, und doch “hörst” du den Rhythmus des Stückes... Man war fast geneigt, dem Festival die schlechte Organisation zu verzeihen... fast.

Yuri Yunakov Ensemble
Auch kein Klezmer, doch Bulgariens Nummer-1-Saxophonist, Bulgariens Nummer-1-Akkordeonist, und eine gute Gelegenheit, Lauren Brody wiederzusehen, die ehemalige Akkordeonistin und Pianistin von KAPELYE. Das Yunakov-Ensemble ist eine Offenbarung für Balkanmusiker und jeden, der diese Musik mag, und man findet in seinem Programm auch das eine oder andere Zigeunerstück oder –lied der Region. Juri Junakow hat die Gruppe mit einer Sängerin verstärkt, Lauren Brody, die lange Jahren bulgarische Musik vor Ort studierte, singt die zweite Stimme und spielt Keyboard. Interessant ist es, Matt Darriaus Paradox Trio und das Yunakow-Ensemble miteinander zu vergleichen: Darriau schöpft aus Balkan- und Downtown-Traditionen, Yunakov aus der puren Lokaltradition – gemixt mit dem Tüpfelchen Glitzer und der Idee “zuviel” Hall, wie man es auch aus Rußland kennt: eigentlich können die Bands unterschiedlicher nicht sein. Und beide sind sie gut.

Anmerkungen zu ASHKENAZ
ASHKENAZ ist ein Erlebnis, wenn man als Besucher dort ist. Es spielen sehr viele Bands und Theatergruppen, es gibt Aktivitäten für Kinder, man kann an einer Parade mitbasteln, Workshops besuchen (dieses Jahr u.a. Juri Junakow) und Vorträge über die Musik hören (u.a. Zev Feldman und Hankus Netsky), also eine Woche lang außer Freitags jeden Nachmittag auf dem Gelände von Harbourfront verbringen. Zumal einige Veranstaltungen frei sind (mit rückläufiger Tendenz).
Als Musiker eine Einladung von ASHKENAZ anzunehmen kann ich nicht empfehlen. ASHKENAZ ist berüchtigt, sich zu überbuchen, so daß nicht genügend Geld für ausreichende Bezahlung aller Künstler zur Verfügung steht. Die Organisation innerhalb der Organisation ist schlecht, Verlaß ist nur auf die Mitarbeiter von Harbourfront. Es gibt ein Heer von volunteers, Freiwilligen, die gern helfen, aber keine Entscheidungen treffen dürfen. Entscheidungsträger sind unauffindbar. Neuankommende Künstler erkennt man jeweils am genervten Gesichtsausdruck. Der Tolerierungsbonus ist beim dritten Festival endgültig verspielt.
David Buchbinder versucht, das Festival von Klezmer-Musik zu entfernen, und er hat seine Gründe dafür. Einer davon ist, daß er für sich und seine Gruppe (die Flying Bulgar Band) keine Entwicklungsmöglichkeiten auf Klezmer-Gebiet sieht. Doch das wird auf anderen musikalischen Gebieten nicht besser werden: Buchbinder laufen die Musiker davon, so daß die Band nie zum tieferen Arbeiten kommt.
Kurios, daß das Programmheft des “Festival of Yiddish Culture” von Fehlern im Jiddischen wimmelt. Michael Wex, dem es nie vorgelegt worden war, ist nicht begeistert, als “Yiddish Advisor” gelistet zu sein.
ASHKENAZ versteht es, der Öffentlichkeit eine glatte Festivalfassade zu präsentieren; dahinter stinkt es mächtig. Kein Garant für gute Stimmung.
Mich sieht man dort nicht mehr, wenn sich die Konditionen nicht ändern.

 
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