Virtual Klezmer

Steven Bernstein
Diaspora soul

(Besprechung: Gus)

Steven Bernstein – Diaspora Soul

Die Platte als nur als eine weitere Aufnahme in der Reihe “radical new jewish music” (einer Serie des New Yorker Masterminds und Saxophonisten John Zorn) zu betrachten wäre oberflächlich. Zugegeben, es ist nicht ganz leicht, auf Anhieb eine Verbindung zwischen den Arrangements Steven Bernstein’s und dem zu ziehen, was man landläufig unter jüdischer Musik oder Klezmer versteht

  Bernstein

Was ist daran jüdisch – ähnlich wie bei dem Masada-Projekt John Zorns stellt man sich auch hier die Frage - zu Recht. “Radical new jewish music” will dem Künstler freie Hand lassen, sein jüdisches Empfinden individuell auszudrücken. Steven schreibt in den Liner Notes, daß es für ihn nicht ganz leicht war, als John Zorn auf ihn zugegangen ist und ihn dazu ermuntert hat, sich seiner jüdischen Wurzeln zu erinnern und eine Platte zur erwähnten Serie beizutragen.

Steven Bernstein kommt ursprünglich aus einer anderen Ecke, hat lange bei der Fake-Jazz-Gruppe Lounge Lizards mitgespielt und hat sich sein ganzes Leben mit anderer Musik beschäftigt als eben mit jüdischer. Er schreibt weiterhin, daß er 3 Jahre mit sich gekämpft hätte und daß ihn seine Beschäftigung mit Musik aus New Orleans dazu gebracht hätte, das Projekt anzupacken. Er knüpft hier ein interessantes, wenn auch nicht ganz nachzuvollziehendes Gewebe von der R&B – Musik Lousiannas über Marschmusik aus der Golfregion (Cuba bis Miami) bis hin zum Cha-Cha als ureigenste jüdische Musik.

Als ihn die Begeisterung gepackt hat, so schreibt er, hat er sich mit einem Stapel Platten und Noten jede Nacht in sein Labor zurückgezogen.
Was dabei raus kam war “a strange brew”. Eine Musik, unglaublich “cool”, starke Bläsersätze, eine ausgezeichnete Percussion unterlegt von einer unglaublich warmen Orgel. Die Musik erinnert an die Töne Willi Bobo‘s, einem der hippsten Arrangeure aus den 60er Jahren (der in der letzten Zeit durch die Wiederauflage seiner alten Aufnahmen einigermaßen bekannt wurde), ein bißchen gewürzt mit den Lounge Lizards (tja, man kennt sich eben in dem Dorf New York), einen Hauch Easy Listening reingemischt, R& B und Cha-Cha-Rhythmen. Verrückt aber genial!
Die Platte wurde aus zwei unterschiedlichen Sessions zusammengestellt und die Stücke sind auch sehr unterschiedlich.

Die erste Session (Tracks 1-5) wurde am 22.3.1999 in der Wohnung von Tony Scherr aufgenommen. Die Stücke wurden nur einmal geprobt und dann “live” geschnitten – angeblich um den Flair der klassischen Cosimo Matassa - Sessions einzufangen. Es hat sich nur eine kleine Besetzung zusammengefunden, die Aufnahmen sind warm und geschmeidig.

Die zweite Session wurde knapp eine Woche später am 28.3.1999 in den Avatar Studios, NYC aufgenommen mit einer großen Besetzung, wie er schreibt im Stil des großartigen Arrangeurs Dave Bartholomew – drei Tenor- und ein Bariton-Saxophon, Klavier (hier Orgel), Baß und zwei Percussions (die gleiche Orchestrierung, die auch Little Richard hatte). Die Aufnahmen klingen glasklar, sind cubanischer – á la Montego Joe, wenn man so will und alles wirkt abgerundeter.

Die Besetzung:
Steven Bernstein (Trompete)
Paul Shapiro (Tenor Saxophon auf Track 1-4 und 6-11)
Michael Balken(Tenor Saxophon auf Track 5 und 7-11)
Peter Apfelbaum (Tenor Saxophon auf Track 7-11)
Briggan Krauss (Bariton Saxophon auf Track7, 9 und 10)
Brian Mitchell (“electrisches Wurlitzer Klavier”, Orgel auf Track 1-9)
Tony Scherr (Bass auf Tracks 1-10)
E. J. Rodriguez (Congas, Bongo, Maracas, Clave)
Robert J. Rodriguez (Postizo Drums, Percussion)

 

Lieder:

Erste Session:

  1. Manishtana (4.35)
  2. L’Chaim (7.50)
  3. Shalom Bimromav (5.38)
  4. Roumania, Roumania (8.46)
  5. Cha (4.49)

Zweite Session:

  1. Rock of the Ages (6.40)
  2. Chusen Kajah Mazel Tov (3.45)
  3. Mazinka (4.30)
  4. Let my people go (4.09)
  5. Ani Mamin (4.44)
  6. Habet Mishomayim (5.21)
  7. Dybbuk Dub (5.45)

 

Bernstein-Diaspora-soul
 

Kommentar zu einzelnen Stücken:

Manishtana, eine schöne Melodie gespielt als langsamer Cha-Cha.

L’Chaim, von dem Album Paul Westons “Soul of a people”  transkribiert. Brian Mitchell auf seiner Orgel fällt hier besonders auf.
Das Stück Shalom Bimromav ist besonders wegen seinen Perkussion-Passagen, aber auch wegen seiner schönen Melodie eines meiner Lieblingsstücke auf der CD. 

Roumania, Roumania, das Lied, mit dem Aaron Lebedeff in den 20er Jahren bekannt geworden ist. Hier kann mir die Interpretation nicht recht gefallen. Der Charakter des Originals geht verloren.

Ein weiterer Musiker der Lounge Lizards spielt in dem Stück Cha hier als Gast mit: Michael Blake. Erinnert ein wenig an die Masada-Aufnamen John Zorns.

Chusen Kajah Mazel Tov ein Hochzeits-Standard. Peter Apfelbaum auf dem Tenorsaxophon spielt hier mit. Peppig und rhythmisch aufgemacht.

Mazinka ebenfalls ein Stück, das auf ashkenasischen Hochzeiten gespielt wird. Aber sicher nicht so wie hier.

Let my people go, der gute alte Gospelstandard von Mose und sein Leuten. Paßt hier gut dazu und erinnert ungemein an Willi Bobo (den ich an der Stelle nur wärmstens empfehlen kann – vor allem sein “spanish greese”). Very cool.

Ani Mamin :mystisches Stück von Moyshe Oysher. Tolle Perkussion.

Das Stück Habet Mishomayim ist mit eines der besten auf der CD. Es handelt sich um eine Transkription des Sängers Joseph Rosenblatts. Ein eher minimalistisch arrangiertes Stück. Hier kommt der kubanische Rhythmus und das jüdische Flair am besten zum Ausdruck. Die Trompete spielt nicht, sie singt – vor allem im zweiten Teil des Stückes - und dazu der Rhythmus - umwerfend.

Dybbuk Dub, kongenialer Zusammenschnitt von Fetzen aus den vorhergehenden Stücken. Es wird eine psychedelische Atmosphäre kreiert, die Kongas und Bongos klicken überspitzt, der Dub frißt die Orgel und spuckt sie fünffach gehallt wieder aus. Noch anders als anders.

Fazit:
Geniale Aufnahmen. Ausgesprochen gut arrangiert (hat Steven immerhin lange bei John Lurie gelernt und bei Hal Willner). Es ist eine Platte, die sich nicht beim ersten Mal erschließt, sie ist sehr vielschichtig, gerade weil eben sehr unterschiedliche Musikrichtungen aufeinandertreffen. Und wie gesagt: Die Bläsersätze sind so ziemlich das beste, was ich seit Earth, Wind and Fire gehört habe, ganz zu schweigen von der Perkussion (präzise und gleichzeitig gefühlvoll). Je öfter ich mir die CD anhöre, desto besser gefällt sie mir; ungemein neuartig und innovativ.

Bewertung:
6-hervorragend

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