Virtual Klezmer

Kapelye
On the Air

(Besprechung: Heiko Lehmann )

Kapelye - On the Air – Old-Time Jewish-American Radio
© 1995 Kapelye
1995 Shanachie Entertainment Corp.
Shanachie 67005

 

Sechs volle Jahre gab es keine CD von Kapelye, die Band war vielerorts abgeschrieben. Besonders der Ausstieg von Michael Alpert, der 1993 ging, und Lauren Brody, die Kapelye wegen einer schweren Krankheit verlassen mußte, schien das Ende tatsächlich zu bestätigen. Doch Sapoznik gab nicht auf. Im Gegenteil, gab ihm doch das Verschwinden seines Widersachers Alpert endlich die Möglichkeit, sich mit seiner Idee eines Konzeptalbums durchsetzen zu können. Verschiedene andere Musiker wurden ausprobiert (so spielten auch Alan Bern, der zu dieser Zeit die BOW -Krise zu bewältigen hatte, und Zalmen Mlotek eine Weile bei Kapelye ), bis schließlich eine Idealbesetzung gefunden schien: die Sängerin Adrienne Cooper und der Pianist und Bandleader Pete Sokolov wurden feste Mitglieder der Band.

 

Adrienne Cooper war u.a. durch Programme mit dem Pianisten Zalmen Mlotek bekannt geworden. Ihre Interpretationen jiddischer Lieder schienen mir zu dieser Zeit einmalig in der gesamten Szene zu sein, sie hatte als Interpretationslehrerin bei KlezKamp einen ungeheuren Einfluß auf die gesanglichen Interpretationen der nächsten Generation. Stilistisch waren Kapelye und sie sehr unterschiedlich; Kapelye arbeitete kaum mit freien Interpretationen, während diese für Cooper ein wichtiges Mittel waren. Ein Höhepunkt ihres Schaffens stellt übrigens ihre 1995 in Berlin produzierte CD „Dreaming in Yiddish“ dar; sie zu beschaffen ist jedoch nicht einfach, da Label und Vertrieb im Streit trotzig den Weg der Pleite beschritten.

Pete Sokolov ist eine der legendärsten Figuren des Klezmer-Revivals, das für ihn gar nicht existierte, da er sein ganzes Leben diese Musik gespielt hatte. Sapoznik und Sokolov arbeiteten seit längerem zusammen; als Forscher war Sapoznik interessiert, ältere Klezmorim aufzuspüren und mit ihnen zusammenzuspielen. Sokolov kannte sie alle und brachte sie mit Sapoznik in Kontakt. Im Gegenzug besorgte Sapoznik Gigs für Sokolov. Sokolov spielte u.a. mit den Epstein Brothers, und seine eigene Original Klezmer Jazz Band hat schon eine Weile Kultstatus. Bandleader ist er auch für Klezmer Plus!, Auseinandersetzungen mit Kapelye´s musikalischem Leiter Ken Maltz schienen vorprogrammiert. Diese jedoch hielten sich in Grenzen: Sokolov zeigte sich entzückt über Maltz´s Können und dessen Disziplin.

Schon seit einiger Zeit arbeitete Sapoznik zusammen mit dem Radioproduzenten Andy Lanset an einem Projekt über jiddisches Radio in den USA von 1925-1955. Schnell faßte er den Entschluß, dieses Projekt auch für Kapelye zu erschließen. Die neue Besetzung der Band erweiterte ihre musikalischen Möglichkeiten erheblich und ließ eine CD zum Thema möglich werden. 1994 ging man in New York nach sechs Jahren wieder ins Studio.

Die Idee war, den Eindruck zu vermitteln, als drehe jemand in den zwanziger oder vierziger Jahren unentschlossen an seinem Röhrenradio herum auf der Suche nach einem jiddischen Sender, der Interessantes bringt. Und da kommt einiges zusammen: Nachrichten, Werbung, Live-Shows und Musik. Wenn man weiß, daß im Radio zu dieser Zeit alles live im Studio eingespielt wurde, beginnt es interessant zu werden. Kapelye hält sich an ein Drehbuch, das Sapoznik mit Cooper geschrieben hat, und zündet ein Feuerwerk.

Um es vorwegzunehmen: es ist eine großartige CD, mit Abstand das Beste, was bis dahin im Klezmer-Revival produziert wurde; das gilt meiner bescheidenen Meinung nach bis heute. Um Mißverständnissen vorzubeugen: natürlich kann man sich über Musik streiten, das ist schließlich eine Frage des persönlichen Geschmacks. In ihrer Einheit aus Musik und Konzept steht diese CD jedoch einmalig da, niemand hatte so etwas je gemacht, niemals wurde es so genial gemacht. Kapelye schlugen mit der Radio Show einen Weg ein, der für das amerikanische Klezmer-Revival völlig neu war, funktionierten doch alle bekannte Bands ausschließlich über Musik.

Und genau das brach der Band den Hals. Das potentielle Publikum erwartete Musik und war an historischen Kontexten nicht interessiert. Ein Fauxpas einer Veranstalterin in Utrecht/Holland mag das illustrieren: während die Band die Radio Show in einer Konzerthalle aufführte, besaß sie die Peinlichkeit, Henry Sapoznik einen Zettel auf der Bühne in die Hand zu drücken, auf welchem geschrieben stand: „Stop talking. Play music.“ Das Klischée von Klezmer-Musik, der fröhliche singende und tanzende Jude, hatte gesiegt. Obwohl zwei gut organisierte Konzerte in Berlin unmittelbar nach Utrecht äußerst erfolgreich verliefen, war die Radio Show nicht mehr zu retten. Die Band bekam Ärger mit Shanachie: die CD verkaufe sich schlecht. Veranstalter und Label hatten offensichtlich kein Interesse daran, den Kontext amerikanischer Klezmer-Musik zu vertiefen; sie wollten lediglich Musik verkaufen. Auch mit diesem Hintergrund ist die CD einmalig.

Kapelye begann wieder, Bar Mitzvahs mit Standardrepertoire zu spielen, doch daran hatte Sapoznik kein Interesse. Diese Gigs spielte er mit Sokolovs Klezmer Plus!, außerdem hatte er bereits eine andere Band mit Margot Leverett und Lauren Brody gegründet. Kapelye sah das mit Recht als Abkehr an. Etwa um 1998 verließ Henry Sapoznik die Band. Ken Maltz und Eric Berman spielen in wechselnden Besetzungen noch immer als Kapelye. Trotzdem scheint es, als sei diese Ära vorerst abgeschlossen.

1. WDAS, Philadelphia
Die Show, die von Harry Kandel gesponsort wurde. Eröffnet wird sie von dem Instrumentalstück "Unzer Toyrele" ("Unsere Torah"), das Kapelye durch den Klarinettisten Dave Tarras kennenlernte, der dieses Stück 1928 aufnahm. "Di Mame iz Gegangen" kennt man von einer Aufnahme von Kandel's Orchestra aus dem Jahre 1917, sie ist bereichert um die Lieder "Di Mama Hot Mikh Geshikt" und "Di Saposhkelech". Beschlossen wird dieser Teil von einer Werbung für Kandels Laden.

2. WCOP, Boston
"Levine, the Big Man", eine Hommage an Charles A. Levine, der mit seinem Piloten Clarence Chamberlin 1927 per Flugzeug den Atlantik überquerte und, Navigation war seine Stärke nicht, in Eisleben statt in Berlin landete. Die B-Seite von „Levine and his Flying Machine“.

3. WSBC, Chicago
Das Radio-Girl, begrüßt sie in diesem Teil. Urprünglich ein Bühnenstück mit Molly Picon (Musik: Joseph Rumshinsky), verwandelten es Kapelye in die "Mystery Soprano" und deren Ansager Russell Fleysh, nachdem sie eine Aufnahme des Liedes "Di Primadonna" gefunden und beschlossen hatten, dieses Lied auf die Bühne zu bringen. Als Bühnenstück war "The Radio Girl" übrigens ein Flop; Molly Picon überließ das Studio für die Aufnahme der talentierten Lucy Levine. Achtung: die "Mameloschn"-Werbung!

4. WBBC, Brooklyn
Die "Brooklyn Talent Hunters", ein fiktives Beispiel der zahllosen Talente-Shows dieser Zeit. Der Beitrag des jungen Talentes Hyman Shuster, "Sixteen Tons", ist eine Cover-Version von Mickey Katz's Adaption des Protestliedes von Tennessee Ernie Ford, der es wiederum von Merle Travis hat. Bemerkenswert! Die Sponsoren gab es wirklich: "Joe and Paul's", eine Bekleidungskette für Herren.

5. WEVD, New York
“Khanele di khazente”. Frauen ist es nach jüdischem Gesetz verboten, in Synagogen zu singen, trotzdem gab es sehr viele Kantorinnen, die zum Teil sehr populär waren und überall sangen -- nur nicht in der Synagoge. Adrienne Cooper ist Khanele die Kantorin und singt "Kol Adoyshem Yekholel Ayolos". Gesponsort von "Yenem's". Das „EVD“ im Sendernamen steht übrigens für „Eugene V. Debbs“, einem legendären Gewerkschaftsführer. WEVD sendet bis heute einmal wöchentlich die „Forverts Hour“, eine jiddische Sendung, die von der in New York erscheinenden jiddischen Zeitung „Forverts“ gesponsort wird. Allerdings steht WEVD im Moment zum Verkauf; im Gespräch ist ein Disney Sports Channel.

6. WHN, New York
"Yidderbugs", nach dem Modell von "Yiddish Melodies in Swing", das von 1939-1955 auf WHN existierte. Jiddische Musik stand ihrer Umgebung kulturell aufgeschlossen gegenüber, man hört ein deutliches Beispiel amerikanischen Einflusses. Swing gehört genauso zur jiddischen Musik dieser Zeit wie die russische Melodie zu "Papirossn". Zwei Lieder werden gebracht: "Samson and Delilah" (Sam Medoff) und "Abi gezint" (A. Ellstein/J. Kalisch).

7. KGFJ, Los Angeles
Das Instrumentalstück "Di Lustige Khsidim". In der Show "A Gast in Shtib" (Ein Gast in der Stube) werden folgende Stücke vorgestellt: ein Dave-Tarras-Bulgar, das Medley "Berditchever Khusidl/Mazl Tov Mekhutonim", Henry Sapozniks Version des Liedes "Ikh Hob Gekent a Meydele", das er von seiner Mutter gelernt hat, sowie "Dem Nayen Sher".


Zusammenfassend:
Höhepunkt und Abschluß von Kapelye´s recording career.

Wertung:
Ausgezeichnet. Das Booklet ist sehr informativ und sehr schön gestaltet. Die Rückseite der CD ziert eine Zeichnung des New Yorker Cartoonisten Ben Katchor

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