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Die Phase der Einwanderung

   

Die Phase der Einwanderung

Um die Jahrhundertwende trafen mit den Einwanderungsschüben hunderttausende Aschkenasim in New York ein, weil hier auf Ellis Island die Anlegestelle der Schiffe aus Europa lag. Viele kamen bei ihrer ersten Station in der neuen Heimat nicht weiter als bis an die Lower East Side von Manhattan. In dem relativ kleinen Stadtviertel lebte jahrzehntelang zusammengepfercht eine bunt gemischte, aus allen Herkunftsländern zusammengewürfelte jüdische Gemeinde.

    “If any one geographic locality represented Yiddish immigrant culture in America, it was the Lower East Side of Manhattan. New York was the uncontested heart of American Jewry from the first tricklings of Russian Jews in the 1870s up until well after Jewish mass immigration ceased in 1920s. Jewish population growth in New York was astounding, leaping from 10,000 in 1846 to 225,000 in 1891, then up to 975,000 by 1912. One and a half million Jews lived in Greater New York in 1917, the area consisting of Manhattan, the Bronx, Brooklyn, Queens, and Richmond. In terms of other urban centers, Jewish New York was five times the size of the next largest Jewish city, Warsaw (...) A social worker’s 1904 count came up with a figure of 64,268 Jewish families literally stuffed into 5,007 tenement buildings on the Lower East Side. Add to this statistic the fact that a typical family apartment might include two parents, six children, and six boarders all squeezed into two windowless rooms. This density remained constant through World War I, with over one third of the population remaining in the congested districts of just over one percent of the area of New York. Such a concentration of people bred in an intense Lower East Side neighborhood life.” (Loeffler 1997:18)

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Das Berufsbild osteuropäischer Musiker veränderte sich in der neuen Umgebung schlagartig. In den Jahren von 1912 bis 1926, von einigen als das “Golden Age of klezmer music” betitelt, entstanden zahlreiche neue Arbeitsmöglichkeiten für sie. Die Neueingewanderten trafen sich auf der Straße ebenso wie in den vielen neuen Vergnügungsorten, die wie Pilze aus dem Boden schossen.

Ihr dringlichster Wunsch war es, sich in der amerikanischen Mittelklassengesellschaft zu etablieren. Dazu gehörten nicht nur das Erlernen der Sprache, der gesellschaftlichen Gepflogenheiten, sondern auch ein ihnen bis dahin völlig fremdes Konsumverhalten, das sich als erstes im Verlangen nach Unterhaltung ausdrückte.

    “For the deluge of new popular urban commercial entertainment (theater, vaudeville, amusement parks, dance halls, restaurants), all but previously unknown to Eastern Europe, were soon the focus of the enormous collective Jewish thirst for entertainment almost as strong as the hunger for upward social mobility. Jewish immigrants flocked to forms of urban leisure that combined elements of the Eastern European culture (the Yiddish language, subethnic nationality groupings, literary and political movements) with the commercial, social, and physical realities of New York life. Urban social leisure became linked to cultural identity in a way similar to that of material consumption.” (Loeffler 1997:17)

Auch die Hochzeiten wurden den neuen gesellschaftlichen Vorbildern angepaßt. Niemand hatte mehr Geld oder Zeit, ein Fest über eine ganze Woche aufrechtzuerhalten. Die sozialen Verflechtungen von Familien untereinander hatten sich in einer bunt durcheinander gewürfelten Gesellschaft aufgelöst. Wie es bei den Amerikanern allgemein schon längst Sitte war, wurde die jiddische Hochzeit auf ein einziges Fest reduziert.

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Dieses glich einem kommerziellem Ereignis, mit dem man ein Ankommen in der neuen amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck bringen wollte. Die Party nach der Trauung wurde in dem meist separaten Festsaal eines Restaurants professionell organisiert. Entweder die Brautleute luden ihre gewünschte Band ein oder der jeweilige Saal hatte sein angestammtes Klezmer-Ensemble.

    “The repercussions for the klezmorim were several. One obstacle to the wedding work was the practice in many catering halls of retaining fixed house bands. Klezmorim could compete for this position by purchasing this music privilege, but most newcomers were not in a position to content.” (Loeffler 1997:20)

Nicht allen Neuankömmlingen war diese Quelle der Arbeit zugänglich. Doch taten sich immer neue Anlässe zu Parties auf, der Bereich der säkularen Musikunterhaltung breitete sich rasant aus und neuartige Orte des Tanzvergnügens eröffneten zusätzliche Verdienstquellen. Viele der aus Klezmer-Familien stammenden Musiker erschlossen für sich neue Musikbereiche innerhalb wie außerhalb des jüdischen Zusammenhangs.

    “If there was a place where social space and the new urban commercial culture combined, it was in the hundreds of cafés, saloons, restaurants, dance halls and dance academies that Eastern European Jewish immigrants erected throughout the Lower East Side. At first glance, the awesome range and number of these urban leisure establishments would have seemed to provide an endless amount of work for immigrant klezmorim (...) But in practice the actual role for klezmorim amounted to a pretty routine and limited musical accompaniment to the general eating, drinking, dancing and cavorting.” (Loeffler 1997:21)

Zu diesen amerikanisch geprägten, teilweise jedoch konkret auf jüdische Konsumenten zugeschnittenen Vergnügungsorten gehörte natürlich ein neuartiges Musikprogramm. Neben den traditionellen Melodien und Tänzen wollte das Publikum die neuesten Hits des jiddischen Theaters und die zeitgenössischen amerikanischen Tänze hören. Marty Levitt begann noch in den vierziger Jahren als Teenager in solchen “Jiddischen Nightclubs” zu spielen, bei denen ein durchwachsenes Musikprogramm mit sowohl amerikanischer wie jüdischer Musik gefragt war.

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“I’m playing there I’m getting 12 $ a night. We played klezmer music, mostly klezmer, some pop tunes, a Jewish nightclub, you know. That’s why I said, I don’t think this thing will ever come back. That was a real klezmer place. You didn’t call it klezmer, it was Jewish music (...) that was all including the Yiddish theatre songs - not Hassidic music - not religious music. I was maybe 17/18. We used to get tips for the songs (...) There was a lot of those nightclubs, my father used to work in some. There was this club in Manhattan Jack the Horse and some in Brooklyn. There was one in the Premier Palace - that was in the 50s, so people were very old already. I played and there were these old people - every night like part of the repertoire we had to play a Russian sher - they would dance. But they also danced cha chas, meringues, sambas and foxtrots.” (Interview Marty Levitt)

Die Besucher solcher Vergnügungsstätten wollten die Musik nicht nur hören, sie wollten vor allem zu ihr tanzen. Paartanz war den Einwanderern bis dahin verwehrt geblieben, denn gemischte Tanzpaare waren in Osteuropa bei religiösen Juden undenkbar. In der Lower East Side von Manhattan eröffneten innerhalb kurzer Zeit eine Reihe von Tanzschulen zu denen die jungen Neuankömmlinge oder schon die erste in Amerika geborene Generation in Scharen pilgerten. Man wollte die Tänze lernen, die gerade in Mode waren. Die Musik für den Unterricht wurde nicht selten von Klezmorim gestellt.

Zusammen mit dem gesellschaftlichen Aufstieg von mehr und mehr aschkenasischen Familien wuchs eine weitere Rolle der Klezmorim zu einem lukrativen Geschäft an: der Musikunterricht. Die Familien, die es sich leisten konnten, ließen ihre Kinder das damals sehr in Mode gekommene und darüber hinaus erschwingliche Klavier spielen lernen. Wie bei den Tanzschulen ging es nicht nur darum, sich eine in die neue Umgebung passende Fähigkeit anzueignen, sondern vielmehr mit ihrer Hilfe die neuen sozialen Anforderungen zu verinnerlichen.

    “If there was one golden economic opportunity for klezmorim, it was the incredible demand for music lessons among Jewish immigrants (...) Jewish immigrants sought out music education as they did dance academies and even the Yiddish theater for lessons in American culture, proper social manners, and a sense of cultural achievement.” (Loeffler 1997:28)

Die Berufswelt der Klezmorim wuchs zu einer schon fast unübersichtlichen Komplexität an. Ganz im Sinne des Zeitgeists der jüdischen Arbeiterbewegung und wie bei anderen künstlerischen Berufen längst üblich, begannen die osteuropäischen Musiker in den 1890er Jahren sich mit ihrem eigenen Musikerverband zu organisieren. Der Beitritt stand den Musikern gegen ein geringes Entgelt offen und bot ihnen nicht nur ein standardisiertes Gehalt, sondern vermittelte konkret Arbeit. 1923 entschlossen sich die Mitglieder dieses umständlich “rusishe progressiv muzikal yunyon no.1 fun amerike” oder einfacher “Progressive Musicians Union” genannten Vereins, sich der allgemeinen “American Federation of Musicians” anzuschließen.

    “New York klezmorim came to find community and professional identity largely through the Progressive Musicians Union. Founded sometime around 1890, this union provided a fraternal organization as well as a professional union for New York’s Jewish musicians (...) Much like the Hebrew Actors‘ Union (1889), the Progressive determined who could play in the Yiddish theater as well as other kinds of jobs (...) To join the klezmer community, a musician had to join the Progressive.” (Loeffler 1997:25)

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