“Darin haben die östlichen
Chasanimeine einzigartige Kunst geschaffen:
in der Elastizität, in den freien Tongruppierungen,
Passagen und Biegungen - eine Koloratur
von blendender Verschlungenheit, von
schwindelnder Phantasie und schneidend
witziger Finesse (...) Die Koloratur
im osteuropäischen Chasanuth gleicht
einer Seele im Körper; ohne sie verliert
das Chasanuth seine Lebenskraft, seinen
Zauber und Reiz.” (Idelsohn 1932 Band
VIII:2)
Diese Emotionalität findet
sich auch in Klezmer-Musik wieder. Hervorgerufen
wird sie durch die kunstvoll eingesetzten
Verzierungstechniken. Viele der
typischen Elemente, wie sie im Abschnitt
über Phrasierung/Ornamentierung
beschrieben werden, sind dem Vorbild des
Chasan nachempfunden worden. Für die Entstehung
und Entwicklung von Klezmer-Musik in Osteuropa
ist die Kunst der Chasanuth
ein wichtiger Aspekt, auch wenn Studien
zu diesem Thema bisher fehlen. Der Stil
der osteuropäischen Chasanim hat sich
im neunzehnten Jahrhundert in vielen Ländern
stark verändert, spätestens in den USA
sind insbesondere die vielen Verzierungstechniken
verschwunden und durch eine reformierte,
an der westlichen Musik orientierte Interpretation
ersetzt worden. Heute kann man kaum noch
von einer direkten Vorbildfunktion
des Kantors für die moderne instrumentale
Musik sprechen.
Eine andere Gesangstradition, die jiddischen
Lieder, nahm im traditionellen Osteuropa
ebenfalls einen wichtigen Platz ein. Anders
als im Fall von Klezmer-Musik gibt es
über sie zahlreiche Studien, Sammlungen
und Liederbücher. Heute noch legt man
in vielen Familien großen Wert auf die
Pflege der Volkslieder . Viele
werden zu Hause während des Sabbat gesungen.
Die sogenannten S’miroth
oder Zmiros, sind eine der
ältesten bekannten Musikformen des Judentums
überhaupt. Im sechzehnten Jahrhundert
erschienen die ersten Liedsammlungen und
bis heute hat sich eine unüberschaubare
Vielfalt an Dichtungen und Melodien angesammelt,
die jedes profane und religiöse Thema
aufgreifen. In den ostjüdischen Gemeinden
setzte ab dem achtzehnten Jahrhundert
eine wahre Blütezeit des jiddischen
Liedes ein. “Der echte Volkston dieser
Lieder, ihre starken Gefühlsinhalte und
die Unmittelbarkeit der Gedankensprache
verschafften ihm eine universelle Geltung,
die auch heute noch unvermindert anhält.”
Die Zmiros beinhalten eine
Fülle von Stoffen, die sich aus unzähligen
Elementen, “angefangen mit orientalischen
Kantillationsformeln und Gebetsmoden verschiedenster
Herkunft über die Beimischung von slawischen,
balkanischen, ungarischen oder deutschen
Liedern und Leitmotiven bis zur Übernahme
von Instrumentalstücken, Märschen, Schlagern”
zusammensetzen. Es wird vermutet, daß
in Osteuropa Lieder umgekehrt auch in
das Klezmer-Repertoire aufgenommen wurden.
Sicher ist, daß viele Eingang in das moderne
Repertoire von Klezmer-Musik gefunden
haben. Eine Reihe von Bands haben in ihrem
Programm einen beträchtlichen Anteil an
Liedern, bei manchen überwiegen sie sogar.
Eine weitere Vokaltradition,
die ebenfalls einen nicht unerheblichen
Einfluß auf Klezmer-Musik hatte, ist die
der Chassidim. Diese bis
heute bestehende orthodoxe jüdische
Bewegung bezieht sich auf die Kabala,
einer aus dem Mittelalter stammenden mystischen
Schrift. Das Gedankengut der Kabala fand
seinen Weg von Deutschland ausgehend in
die östlichen Länder, wo es unter der
Leitung des Israel Baal Shem Tov
in der jüdischen Religion zu großer Bedeutung
gelangte. Der wichtigste Gesichtspunkt
seiner neuen religiösen Haltung war es,
sich gegen die intellektuelle Herangehensweise
des permanenten Studiums der biblischen
Texte zu wenden und vielmehr in der ekstatischen
Verehrung Gottes eine Einheit von
Körper und Geist zu erreichen. Dabei spielen
Gesang und Tanz zur Unterstützung der
Gebete die wichtigste Rolle. Der Chassidismus
verbreitete sich nach dem achtzehnten
Jahrhundert über weite Teile Osteuropas
und hat heute noch in Amerika und Israel
große Bedeutung.
Gesang wird bei den Chassidim
als Hauptquelle religiöser Inspiration
angesehen und stellt nach dem Gebet die
wichtigste religiöse Pflicht dar.
Durch sich immer wiederholende wortlose
Melodien, sogenannter Niggunim
(Singular Nigun oder Nign), singen und
tanzen sich die Chassidischen Männer unter
der Leitung ihres Tzadik
in einen tranceartigen Zustand, durch
den sie nach größtmöglicher Nähe zu Gott
streben. Die Lieder bestehen aus einfachen
Melodielinien, sind leicht nachzusingen
und beinhalten immer eine stark emotionale
Komponente . Obwohl man in Gruppen
zusammen singt, wird jedes individuelle
Singen als ganz persönlicher Ausdruck
der Gottesverehrung angesehen und erhält
dadurch eine eindrucksvolle Direktheit.
“Much of
the body of Chassidic song is wordless,
employing only vocalized syllables,
such as `bim bom,´ `aha aha,´ `dai dai,´
`yam bam,´ etc. This is due to the fact
that according to the rebbis, the melody
alone is of primary importance (...)
A melody with text was (...) limited
to time, for with the conclusion of
the words, the melody, too, comes to
an end. Whereas, a tune without words
can be repeated endlessly.” (Pasternak
1968:Introduction)
Durch die weite Verbreitung
der Chassidim hatten viele der Klezmorim
in Osteuropa zu ihnen Verbindung und
fanden nicht selten Arbeit bei Chassidischen
Hochzeiten. Ihre Hochzeitsmusik ist
in vielem der Klezmer-Musik ähnlich, trotzdem
kann man sie nicht einfach zusammenfassen.
Auch in den USA fanden in den fünfziger
Jahren viele amerikanische Klezmorim zusätzliche
Einkünfte bei den neu Eingewanderten.
Wegen der musikalischen Gemeinsamkeiten
war es nicht schwer für sie, das verlangte
Repertoire zu erlernen. Andy Statman,
der selber einer Chassidischen Gruppe
beigetreten ist, sieht bis heute große
Ähnlichkeiten zwischen den beiden Musiktraditionen
und geht sogar soweit, daß er sie nicht
mehr grundsätzlich trennt. Seiner Erfahrung
nach haben sich in vielen Liedern auch
ursprünglich instrumentale Stücke in Form
von Gesängen innerhalb der Chassidischen
Gemeinden erhalten.
“It still
is a living tradition, maybe not as
a play, but people still can write music
in this old style and there are people
who dance who understand what the intent
of the music is and they can write in
that style and it has that feel. But
it’s by no means dead. But you will
very rarely see it though at a Hassidic
wedding and it’s something that’s done
more privately or actually for religious
celebration or something like that.”
(Interview Statman)
In den letzten Jahren haben
wieder einige Klezmorim wachsendes Interesse
an der traditionellen Musik der Chassidim
gefunden. Hier spielen häufig neben
den musikalischen immer öfter auch spirituelle
Aspekte eine große Rolle.
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