Virtual Klezmer

Klezmermusik -
Neue Impulse für die Musik durch Kli Zemer


Autor: Helmut Eisel   In diesem Artikel vertretenen Ansichen entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion

Wer kann Klezmermusik definieren?

Auf klezmer.de ist der Begriff "Klezmermusik" vor allem durch die Beiträge von Heiko Lehmann eingeführt. Doch stimmt diese Definition mit dem überein, was Klezmermusiker derzeit spielen?
Ich bin sicher, dass zumindest in Deutschland viele Musiker Klezmermusik aus einem anderen Verständnis heraus spielen.
Es ist naturgemäß schwierig, eine Sache zu definieren, die sich in einem Wandlungsprozess befindet. Wir können heute sagen, was Klezmorim vor 100 oder 200 Jahren gespielt haben, und ein Musikwissenschaftler wird im Jahre 2100 wissen, was man um die Jahrtausendwende Klezmermusik genannt hat.
Aber heute: Giora Feidman, der derzeit prominenteste Klezmermusiker und in Deutschland der Pionier der Klezmermusik schlechthin, definiert den Begriff Klezmermusik ganz anders.
Meine Workshops und Konzerte basieren auf Feidman`s Klezmerbegriff, und zumindest seine und meine Workshopteilnehmer werden sich bei Heikos Definition nicht wiederfinden. Dabei ist letztere ja nicht so falsch. Die von Feidman aber auch nicht! Beide sind allerdings unvollständig, denn sie lassen jeweils das weg, was ihnen nicht wichtig oder passend erscheint. Es gibt nämlich verschiedene Aspekte, unter denen wir eine Musikrichtung beschreiben können:

1. Der analytische Aspekt: Wir können fragen, wie Klezmerstücke aufgebaut sind, was für Rhythmen, Tonleitern und Akkorde vorkommen, wie sie instrumentiert werden...
Wir könnten also sagen: "Wenn ein Stück diese Tonleitern, diese Rhythmen und diese Akkorde hat, dann ist es Klezmermusik."

2. Der traditionell-funktionale Aspekt: Wir können fragen, wer Klezmermusik traditionell spielt(e), und wozu man sie einsetzt.
Also könnten wir sagen: "Klezmermusik ist die Musik wandernder jüdischer Musikanten, die meist zu Hochzeiten..."

3. Der übergreifende Aspekt: Wir können fragen: aus welcher Geisteshaltung spielen Klezmorim, und inwieweit können wir diese Geisteshaltung auf unser bisheriges Verständnis von Musik übertragen?
Als Musiker sind wir unser Leben lang Suchende, und Klezmermusik kann uns Antworten bringen, die wir in der eigenen Kultur nicht gefunden haben. Unter diesem Aspekt könnte unsere Definition etwa so aussehen: "Wer aus einer inneren Haltung des Musik-Weitergebens (statt Musikproduzierens) spielt, wer sich also als "Gefäß des Liedes" (=Kli Zemer) sieht, ist ein Klezmer."
Und das genau ist die Definition Giora Feidman`s.

Für Heiko Lehmann zählt nur der erste und zweite Aspekt. Für Giora Feidman zählt vor allem der dritte Aspekt, denn nur damit kann er die Musik, die er auf der Bühne spielt, Klezmer nennen. Aufgrund seiner zahlreichen Workshops und Konzerte ist das Bild vieler Musiker in Deutschland durch sein Verständnis von Klezmermusik geprägt. Meine eigene Prioritäten würde ich mit 3, etwas 1 und ganz minimal 2 bezeichnen.
Ein solches Musikbild wirft ein Problem auf: nach Feidman`s Definition kann jeder Mensch ein Klezmer sein, gleich welcher Herkunft und welcher Religion. Wichtig ist, aus welcher Geisteshaltung heraus er spielt.
Sofort stellen sich verschiedene Fragen: Ist das denn in Ordnung so? Nehmen die Deutschen den Juden jetzt die auch Klezmermusik noch weg?
Muss man da nicht etwas richtig stellen, schon wegen des Holocaust...
Auf diese Fragen gibt es zumindest eine einfache Antwort: Wer Musik macht, nimmt niemandem etwa weg, sondern er gibt etwas!
Außerdem: Ohne Feidman würde es diese Musik in Deutschland gar nicht geben, jedenfalls bei weitem nicht in diesem Ausmaß. Klezmermusik wäre vielleicht eine zusätzliche Folk- oder Weltmusik, und die großen Klezmer-Konzerte in Theatern und Stadthallen gäbe es überhaupt nicht. Damit wäre Deutschland aber auch für überregionale Gruppen wie Kol Simcha oder die Klezmatics uninteressant. Kaum jemand würde sich um Klezmermusik Gedanken machen, und klezmer.de würde es wohl auch nicht geben. Unsere Kultur wäre ärmer.
Nun ist Feidman keine einfache Persönlichkeit, und es gab seit seinem ersten Workshop in Berlin 1989 nicht wenige, die sich nach anfänglicher Begeisterung enttäuscht von ihm abwandten. Darunter die Gruppe Aufwind mit ihrem Bassisten Heiko Lehmann. Aus nachvollziehbaren persönlichen Differenzen zu Feidman heraus sagen diese Musiker: Wir wollen uns woanders orientieren. Deshalb wundert mich nicht, dass in Heikos Definition der für Feidman so wichtige übergreifende Aspekt nicht mehr vorkommt.
Das aber ist ein Jammer, denn ausgerechnet unter diesem Aspekt betrachtet kann Klezmermusik unsere zukünftige Musik in großem Maße bereichern. Mein Vorschlag wäre deshalb, sich an der Praxis zu orientieren und einfach das Klezmer zu nennen, was heute als Klezmer gespielt wird.

Klezmermusiker heute

Bevor ich auf meine Erfahrungen mit dem übergreifenden Aspekt zu sprechen komme, muss ich zum besseren Verständnis auf die Situation von Klezmermusikern in der heutigen Zeit eingehen. Obwohl man Spuren der Klezmorim in Deutschland bereits im 12. Jahrhundert finden kann, wurde der Begriff "Klezmermusik" erst um 1970 geprägt. Davor war diese Musik fast 40 Jahre lang nicht existent. In Europa wüteten die Nazis und löschten jüdische Kultur wie jüdisches Leben aus.
Auch in den USA führten mannigfaltige Gründe, dazu, dass die Musik der Klezmorim nicht weitergepflegt wurde. Auch Angst vor Antisemitismus spielte dabei eine Rolle. Das änderte sich erst mit dem sogenannten Klezmer-Revival zu Beginn der 70er Jahre. Jüdische Musikstudenten entdeckten die Musik der Klezmorim und damit ein Stück ihrer jüdischen Identität neu. Dabei spielte der traditionell-funktionale Aspekt eine bedeutende Rolle, stellt er doch das Bindeglied zwischen Musik und jüdischer Kultur dar. Allerdings gingen die Musiker sehr unterschiedlich mit der überlieferten Musik um: den einen war es wichtig, so traditionell wie möglich zu spielen, andere verwendeten lediglich einige Elemente, um damit eine neuartige Musik zwischen Free Jazz und Avantgarde zu schaffen.
Leider stellt sich jüdischen Klezmermusikern ein großes Problem: der Begriff Klezmer ist auch bei modernen Juden noch belegt im Sinne von "ungelernter, schlecht ausgebildeter Musiker", der soziale Stellenwert der Klezmorim ist dem von Landstreichern vergleichbar.
"Kein Musiker, nur ein Klezmer ist gekommen!" heißt es in einer Geschichte von Joseph Thal.
Mit diesem Vorurteil tut man den Musikern der Vergangenheit unrecht, denn um von ihrer Kunst zu leben, mussten sie beachtliche musikhandwerkliche Fähigkeiten entwickeln, auch wenn der Lehrer oft "nur" der Vater oder der große Bruder war. Um so schlimmer trifft es die heutigen Klezmorim, die meist ein Musikstudium absolviert haben. Das Vorurteil ist da, und es ist beständig.
Der jüdische Klarinettist Joel Rubin, der es auf seiner Klarinette zu durchaus beachtlicher Virtuosität gebracht hat, versucht deshalb verzweifelt zu beweisen, dass Klezmermusik Kunst ist.
Seine These: Die Triller- und Verziertechnik macht den Klezmer-Meister! Und die lehrt er auch gleich auf seinen Workshops. Aus meiner Sicht eine mehr als fragwürdige These.

Giora Feidman und Kli Zemer

Dem geringen sozialen Ansehen der Klezmermusik verdanken wir aber auch die Topfigur der europäischen Klezmermusik: Giora Feidman.
Als Klezmer der vierten Generation war die Order des Vaters an den jungen Giora klar: wenn du Musiker werden willst, dann werde nicht "nur" ein Klezmer, sondern lerne es richtig: studiere und lass dich in einem Orchester fest anstellen. Giora tat's, studierte Klarinette und spielte im Sinfonieorchester. Aber seine Liebe blieb bei der Klezmermusik.
Mit seiner Frau und Managerin Ora bat Chaim entwickelte er ein Konzert-Konzept, das es ihm erlaubt, Klezmermusik auf großen Konzertbühnen zu spielen. Damit ist er - auch wenn es einige nicht gerne sehen - der erfolgreichste Klezmermusiker der Welt geworden.
Um eine Musik, die ursprünglich zum Tanz gespielt wurde, auf Konzertbühnen zu präsentieren, musste er natürlich einiges verändern. Ein Aufschrei unter den Anhängern des traditionell-funktionalen Aspektes: das ist doch kein Klezmer, dazu kann man nicht tanzen, so würde man das Stück bei einer Hochzeit niemals spielen... Stimmt alles, aber nur für den, der es so sieht! Feidman geht sogar noch einen Schritt weiter: er integriert Stücke wie "Ave Maria" in seine Konzerte, die auch analytisch betrachtet nichts mit Klezmermusik zu tun haben. Und er provoziert, indem er Wagner auf dem Gelände von Auschwitz spielt. Was um alles in der Welt hat das mit Klezmer zu tun?
Feidman argumentiert unter dem übergreifenden Aspekt. Er muss es ja zwangsläufig tun, denn er ist sich seiner Botschaft völlig sicher: das, was er spielt, ist Klezmer. Er kann gar nichts anderes spielen. Also setzt er bei den Wortwurzeln des Wortes Klezmer an. Damit aber erhalten wir eine ganz neue Dimension von Klezmer.
Die aramäischen Stammsilben von "Klezmer", bedeuten, wörtlich übersetzt: "Gefäß des Liedes". Das ist nicht nur eine nette Beschreibung für einen Musiker, hier steht eine Philosophie dahinter. Wenn wir uns Musiker als Gefäße des Liedes ansehen, bedeutet das nämlich vor allem, dass wir Musiker keine Musik machen. Die Musik ist schon da, auch ohne uns. Alle Melodien sind als Bestandteil der Schöpfung bereits vorhanden. Jeder kann wunderschöne Musik hören, wenn er nur die Augen schließt und in sich hineinhört. Unsere Aufgabe als Musiker ist nun, diese Musik, die uns begeistert, auch für andere hörbar zu machen.
Mit "Lied" ist hier eine Melodie gemeint, nicht etwa ein vertonter Text. Es gibt für Melodien in der Kabbala, der jüdischen Mystik, drei Stufen musikalischer Vollkommenheit:
bei der ersten Stufe bedarf es noch Worten, um die Melodie zu übermitteln: eine tolle Betrachtungsweise, nutzen wir doch heute viel eher die Musik, um Worte zu übermitteln.
Bei der zweiten, schon "reineren" Stufe, sind keine Worte mehr nötig, aber noch Klangerzeuger wie Lippen oder eben Klarinettenblätter.
Die dritte, vollkommenste Stufe braucht das alles nicht mehr: es singt von ganz alleine, aus den Knochen, ohne Zutun.
Diese Beschreibung der höchsten Stufe musikalischer Vollkommenheit wird übrigens König David zugesprochen, den man als Urvater der Klezmermusik ansieht.
Diese Idee des Weitergebens von Musik finden wir nicht nur in der jüdischen Mystik: in allen fernöstlichen Mystiken spielt Musik eine wesentliche Schöpfungsrolle, und auch die christliche Mystikerin Hildegard von Bingen formulierte viele Gedanken, die unmittelbar der Beschäftigung mit Kli Zemer entstammen könnten. Die Idee des Weitergebens von Musik ist grenzüberschreitend, aber die griffigsten Ideen dazu liefern eben die Klezmermusik und die jüdische Mystik, oder noch genauer: die Interpretation Giora Feidman`s.
Der sagt ganz einfach: jeder, der aus der Haltung Kli Zemer, der Haltung des Musik-Weitergebens spielt, ist ein Klezmer.
Das mag einigen absurd erscheinen, ist aber genauso berechtigt oder unberechtigt wie alle anderen Definitionen.
Es hängt eben einfach davon ab, unter welchem Aspekt wir argumentieren und was uns wichtig ist. Wenn ein jüdischer Musiker mit dieser Musik ein Stück jüdische Tradition leben möchte, kann ich sehr gut verstehen, dass ihn vor allem die traditionell-funktionale Sicht interessiert. Merkwürdigerweise sind allerdings viele Verfechter einer einseitigen traditionell-funktionalen Beschreibung keine Juden.
Ich finde es unsinnig, zu überlegen, ob das nun in dem ein oder anderen Sinne Klezmermusik ist, was Feidman spielt. Es ist auch müßig, zu fragen, ob man auf den Mauern eines Vernichtungslagers Wagner spielen darf. Die Basis für Feidman ist in diesem Fall: Wagner hat der Nachwelt tolle Musik vermittelt. Er hat sie nicht etwa gemacht, er hat sie lediglich komponiert (composere = zusammensetzen), hat Melodien aus dem großen Urmusik-Topf geschöpft und für uns zusammengesetzt, war also im wahrsten Sinne des Wortes "schöpferisch" tätig.
Glück gehabt - was ja nicht heißt, dass er deswegen ein vorbildlicher Mensch ist. Im Gegenteil: Durch die Verkettung mit der Herrenmenschen-Ideologie funktionalisierte er seine Melodien, er missbrauchte sie. Dass jemand ein Gut oder ein Talent, das er besitzt, missbraucht, ist ja leider nicht selten. Das Gut wird davon aber nicht schlechter, nur der Mensch, der es missbraucht. Die Melodien, die Wagner entdeckt hat, bleiben als Bestandteil der Schöpfung rein und schön. Und deshalb spielte Feidman sie.
Ich persönlich fand seine Wagner-Aktion nicht gut, denn er nahm dabei in Kauf, Menschen, die immer noch durch den Holocaust traumatisiert sind, erneut zu verletzen - bei diesen Menschen kann er ein so hohes Musikverständnis einfach nicht voraussetzen.
Aber auch wenn er mit der Umsetzung der Kli Zemer-Ideen hier über sein Ziel hinausgeschossen ist: Die Ideen bleiben hervorragend! Giora Feidman hat mit seiner Interpretation von Klezmer, mit seiner Aufwertung der übergreifenden Sicht, eine neue Denkrichtung angestoßen, eine Denkrichtung, durch die Klezmermusik die Musik des 21. Jahrhunderts ähnlich prägen könnte wie der Jazz das 20. Jahrhundert geprägt hat. Das tolle dabei ist, dass sich diese Denkweise auf jede Musik übertragen lässt. Ich persönlich finde es besonders interessant, damit ein Improvisations-konzept zu entwickeln, aber klassische Musiker oder Popmusiker können genauso gut davon profitieren.
Leider sind diese Ideen nicht leicht zu verstehen. Was zunächst banal klingt, ist tatsächlich eine Lebenshaltung, die immer wieder hinterfragt und aktualisiert werden muss. Nachlesen nutzt hier gar nichts, deshalb finden sich auch so wenig schriftliche Aufzeichnungen über den übergreifenden Aspekt. Giora sagte mir einmal nach einem Konzert meines Trios JEM: "Du bist der einzige, der mein Konzept verstanden und weiterentwickelt hat!" Natürlich macht mich ein solche Lob stolz, aber eigentlich ist es schade, dass bislang erst wenige diese Ideen nachvollziehen und weiterentwickeln, denn es stecken unglaubliche Möglichkeiten darin.
Immerhin: Es gibt glücklicherweise inzwischen einige Musikpädagogen, aber auch sehr hoffnungsvolle Nachwuchsmusiker, die an diese Gedanken anknüpfen.
Im folgenden möchte ich auf die Möglichkeiten eingehen, die sich für mich in 13 Jahren Konzert- und Workshoptätigkeit mit diesem Gedankengut auftaten.

Vom Jazz-Workshop zu Kli Zemer

Ich lernte autodidaktisch Klarinette und Saxophon spielen. Bis zum Ende der 80er Jahre galt meine große Leidenschaft dem Jazz. Leider musste ich sehr bald feststellen: Leben kann man davon nicht wirklich, und so frei, wie ich immer gedacht hatte, ist ein Jazzmusiker auch nicht. Ich spielte also in Jazzbands, finanzierte mein Mathematikstudium jedoch mit Aushilfen bei Gala-Bands, Klarinetten- und Saxophonunterricht und Improvisations-Workshops. Bei diesen Workshops ging ich nach der Akkord-Skalentheorie vor, aber die Ergebnisse waren unbefriedigend. Viele meiner Teilnehmer übten fleißig ihre Skalen, kamen aber der Improvisation nicht wesentlich näher. Und ich fand keine Antwort auf die wichtigste meiner Fragen: was unterscheidet die Melodien, die mich berühren, von anderen, wenn sie offensichtlich aus dem gleichen Tonmaterial zusammengesetzt sind?
Ich begann, in meinen Workshops mit musikalischen Frage- und Antwortspielen zu experimentieren. Dadurch wurde alles spielerischer und es kamen schönere Melodien zustande. Dann war mein Studium zu Ende, ich arbeitete als Unternehmensberater, spielte in ein paar Jazzbands und hatte keine Zeit mehr für Workshops.
1989 erzählte mir ein Jazztrompeter, mein Klarinettenspiel klänge wie das eines offenbar recht bekannten jüdischen Klarinettisten. Der würde aber keinen Jazz spielen, sondern so eine Art jüdischen Folk. So wurde ich erstmals auf Giora Feidman aufmerksam.
Die Schallpatte, die ich mir von ihm kaufte, stufte ich vorsichtig als "interessant" ein.
Mein Freund und Gitarrist Michael Marx brachte mir ein paar Tage später eine Ausschreibung zum ersten Feidman-Meisterkurs in Berlin. Da ich immer noch nicht so recht wusste, was ich von diesem Menschen halten sollte, fuhr ich hin.
Der Kurs war eine Offenbarung, geradezu eine Revolution für mein bisheriges Denken. Ich gründete danach mein Trio JEM, assistiere seither Feidman bei den meisten seiner Workshops und startete meine Workshopreihe "Klezmer-Improvisationen". Was Feidman für klassische Musiker lehrte, passte nahtlos in mein Improvisationskonzept. Wesentliche Elemente meiner Workshops gehen seither auf seine Kli-Zemer-Gedanken zurück.
Die meisten Menschen haben Angst vor der Improvisation. Kli Zemer liefert hier ein wunderbares Bild: Wenn du ehrlich bist, kannst du nichts falsch machen. Alle Musik liegt ja schon in der Stille. Also lernen wir zuerst, die Stille zu genießen, danach lernen wir, einen Ton zu genießen, ihn schön zu finden, zu hören, was mit ihm passiert, wenn ein zweiter Ton dazu erklingt. Das Stichwort ist hier die innere Stimme. Wenn ich improvisiere, beginnt das stets damit, dass ich höre, nach außen, was die Mitmusiker spielen, und eben nach innen, wo mir Melodien unweigerlich "gegeben werden", wenn ich nur lange genug warte. Diese muss ich auf mein Instrument übertragen. Das ist für Workshopteilnehmer ein nachvollziehbarer Prozess, wenn auch nicht immer einfach.
Schaffe ich es, die innere Stimme auf mein Instrument zu übertragen, habe ich eine Melodie geschöpft - ich habe sie für meine Zuhörer entdeckt, ich habe ihn mit dieser Melodie verbunden. Das ist etwas ganz anderes als "vorspielen, was ich kann". Und damit und nur damit, dass ich meinen Zuhörer mit einer Melodie verbinde, kann ich ihn berühren mit dieser Melodie. Es kommt also in dieser Hinsicht tatsächlich nicht darauf an, was ich spiele, sondern wie ich spiele.
Der traditionell-funktionale Aspekt fließt nur wenig in mein Konzept ein: sicher kann ich über einen Nigun einen Menschen, der kopflastig improvisiert, dazu bringen, nach innen zu hören und dadurch seine Improvisationen zu verbessern. Dazu ist es schon hilfreich, wenn ich weiß, dass die Melodie eines Nigun von gläubigen Menschen unzählige Male gesungen wird, um einen meditativen Zustand zu erreichen
Irgendwann stellte ich fest, dass es vielen Menschen leicht fällt, auf der Basis von Klezmer-typischen Tonleitern zu improvisieren, leichter als mit Dur und Moll. Problematisch wurde es nur, wenn ein Teilnehmer nicht genügend technische Versiertheit besaß, mit diesen Tonleitern zu spielen. Deshalb entwickelte ich hier ein Verfahren, mit präparierten Xylophonen oder Orff-Klangstäben und einem eingeschränkten Tonvorrat zu arbeiten. Geradezu verblüffend war es, zu sehen, dass dieses Verfahren bei autistischen sowie bei psychisch kranken Menschen fantastisch funktionierte. Oft trat nach den ersten, vorsichtig gespielten Tönen ein Leuchten in ihre Augen und sie wollten gar nicht mehr aufhören zu spielen. Kommunikation über die Musik wurde problemlos möglich. Ähnliche Erfahrungen machte ich mit dem Freilach-Rhythmus. So ist auch der analytische Aspekt in meine Kurse integriert.
Viele unterschiedliche Workshops festigten mein Bild von der Arbeit mit Kli Zemer. Ich arbeitete mit Erwachsenen, mit Kindern und Jugendlichen, mit behinderten Menschen, psychisch Kranken, Lehrern, Schülern.... Aus jeder Gruppe war es mit Kli Zemer möglich, wunderschöne Musik hörbar werden zu lassen.
In den letzten Jahren arbeite ich verstärkt mit Orff-Instrumentarium, um auch Menschen, die kein Instrument spielen, Improvisationserfahrungen mit Klezmer-typischen Tonleitern zu ermöglichen. Ich finde, in unserer schnelllebigen Zeit ist es wichtig, Improvisation als etwas freudvoll kreatives zu erleben, nicht als etwas, wovor man Angst haben muss. Derzeit arbeite ich mit einer Kommunikationswissenschaftlerin an der Möglichkeit, Improvisationsmodelle für Unternehmen nutzbar zu machen - alles auf der Basis von Kli Zemer.
Es ist nur ein Anfang - ich werde weiterarbeiten und bin überzeugt, dass ich noch viele interessante Anwendungsmöglichkeiten finden werde, und es gibt inzwischen Leute, die diese Arbeit in anderen Bereichen fortsetzen.

Kli-Zemer auf der Bühne

Auch meine Bühnenentwicklung wurde durch das Gedankengut, das Giora Feidman mir nähergebracht hat, entscheidend beeinflusst. Mein Trio JEM war ursprünglich noch als experimentelle Jazzband gegründet worden. Nach erfolgreichen Konzerten, u. a. auf dem Klezmerfestival in Safed (Israel), beschlossen wir 1993, fortan von unserer Musik zu leben.
Die Idee des Musik-Vermittelns (statt Produzierens) führte zu einem neuen Bühnenkonzept:
Die Zuhörer werden mental - manchmal auch real - vom ersten bis zum letzten Ton mit einbezogen. Applaus beispielsweise ist für uns keine Belohnung für einen gut gespielten Titel, sondern eine gezielte Maßnahme zum Spannungsabbau. Häufig verwenden wir Brücken: eine Melodie wird immer leiser, sodass die Zuhörer sie irgendwann nicht mehr hören, statt dessen aber weiterdenken. Das ist ein Zustand sehr hoher Aufmerksamkeit und intensivster Spannung. In diese Spannung hinein starten wir den nächsten Titel, der nun nicht bei Null beginnt, sondern weiter aufbauen kann.
Überhaupt: die Stille als vollkommene Musik ist für mich eine der großen Entdeckungen Feidman`s. Stille und ganz leise Töne, die den Zuhörer zum lauschen bringen - eine Vokabel, die aus unserem Sprachschatz fast verschwunden ist. Lauschen ist aktives Hören, hören wollen, auch nach innen hören. Darüber aktivieren wir unser Publikum!
Wann immer es möglich ist, machen wir unseren Zuhörern klar, dass hier nicht eine Band ihre Stücke abliefert und ein Publikum gegenübersitzt und konsumiert, sondern dass wir eine gemeinsame musikalische Erfahrung machen. Die meisten Konzerte enden, indem wir Musiker im Publikum sitzen und gemeinsam mit diesem eine Melodie singen.
Natürlich gab es auch Rückschläge: Meine Erfahrungen mit dem KlezmerOrchester, das ich gemeinsam mit Klaus Koßmann und der Klezmergesellschaft e.V. als Kli Zemer-Orchester entwickelt hatte, zeigten, dass dieses Konzept einem großen Orchester viel abverlangt. Mehr, als ich von einem Laienorchester erwarten darf. Ein Teil der Musiker konnte diese Ideen zwar nachvollziehen und sein Spiel damit auch verbessern. Aber eine Arbeitsphase alle 3 bis 4 Monate, bei jeder Arbeitsphase neue Gesichter unter den Musikern (nicht jeder kann sich immer Zeit für die Arbeitsphase machen), das reichte einfach nicht aus, um dieses Ideengut zu etablieren. Nach meinem Ausscheiden hat sich das KlezmerOrchester konsequent weg von Kli-Zemer zu einem Orchester traditionell-funktionaler Prägung entwickelt. Nun dominieren die viel leichter nachzuvollziehenden Elemente jiddisches Lied und jiddischer Tanz. Das Orchester hat damit eine Identität gefunden, mit der es sich wohlfühlt und ich bin um viele Erfahrungen reicher. Ich musste einsehen, dass ich mein ursprüngliches Ziel mit einem solchen Orchester nicht erreichen kann.
Auch die Zusammenarbeit mit Sängerinnen und Sängern gestaltete sich schwierig: Gesungene Lieder sind bei Kli Zemer schwer unterzubekommen, denn die Textebene wird die musikalische Ebene stören, und letztere hat hier Vorrang (s.o. Stufenkonzept).
Meine Ansagen dienen ausschließlich dazu, der Musik den Weg zu ebnen: die unterschiedlichen Menschen, die in unseren Konzerten sitzen, haben unterschiedliche Voraussetzungen. Was dem einen als fetziger Tanz erscheint, kann für den anderen durchaus ein Streitgespräch sein. Wenn ich viel vorgebe, bleibt wenig für die Fantasie, also gebe ich nur wenig vor, und der Zuhörer ergänzt mit seiner Fantasie. Letztlich dient meine Performance ja nicht dazu, etwas "abzuliefern", sondern einen musikalischen Prozess in ihm anzustoßen.
Deshalb arbeite ich nur sporadisch mit Sängerinnen oder Sängern zusammen, denn für die ist eine solche Sichtweise kaum nachvollziehbar. Statt dessen führte mich diese Überlegung zu einem Soloprogramm. Kein gesungener Text, immer nur ein Ton. Ansagen dienen hier erst recht ausschließlich dem Vermitteln der Musik. Es geht nicht um das, was ich spiele, sondern um das, was beim Zuhörer ankommt. Wenn ich ihm eine Bigband suggeriere, kann er eine Bigband hören. Das Verrückte ist: es funktioniert!
Aber die mentale Anstrengung ist unglaublich - selbst heute noch geht es mir mehrere Tage lang schlecht vor einem Soloauftritt und ich bin erst wieder guter Dinge, wenn er vorbei ist. Aber die Erfahrung ist grandios. Und sie lässt sich auf alle größeren Besetzungen übertragen.
Mit meiner CD "Eisel bläst Brandwein" stellte ich erstmals nach der Orchester-Erfahrung wieder viele Musiker auf die Bühne bzw. in ein Tonstudio. Der Kern dieser Musiker teilt die Kli Zemer Ideen mit mir. Andere waren "nur" Gastmusiker, sie brachten ihre eigenen Erfahrungen mit. Es funktionierte hervorragend. Den meisten Spaß hatten wir mit einer kompletten Grundschulklasse. In ihrem Inneren wissen diese Kinder nun sehr genau, was Kli Zemer ist.
Wen die Kritik von Andreas zu dieser CD übrigens irritiert, der schaut am besten auf meiner Homepage www.helmut-eisel.de nach, wie andere Kritiker diese CD rezensieren.
Oder noch besser: selber hören und eigene Meinung bilden!
Mit dem schmerzhaften, aber wirtschaftlich unumgänglichen Austausch des Bläsersatzes aus der Brandwein-Studiobesetzung durch ein Akkordeon habe ich jetzt endlich eine größere Kli Zemer - Besetzung auf der Bühne (Quintett).

Wie geht es weiter?

Viel an den heutigen Diskussionen um Klezmermusik erinnert mich an die alte Frage, was denn nun Jazz sei und was nicht. Reicht es, wenn ein Stück swingt, oder muss auch Improvisation vorkommen? Spielte Glen Miller Jazz? Sein Orchester swingte vehement, aber es gab praktisch keine Improvisationen. Spätestens seit der Einführung des Rock- und Latin-Jazz ist aber auch das Element "swing" keine notwendige Bedingung für Jazz mehr. Lange hielt sich dagegen das Vorurteil: Wer Jazz gut spielen will, muss schwarz sein. Aber auch das ist inzwischen ausgestanden.
Bei Klezmermusik ist es heute ähnlich, das Vorurteil tritt lediglich in einer Variante auf: Wer Klezmermusik gut spielen will, muss Jude sein oder sich zumindest in der jüdischen Tradition bestens auskennen und engagieren. Ich bin jedoch zutiefst überzeugt davon, dass ein Klezmermusiker kein besserer Musiker wird, indem er Jiddisch lernt und noch ein paar Tänze dazu. Wenn es ihn interessiert, klar, prima Sache. Aber in seiner musikalischen Entwicklung wird ihn das leider keinen Schritt weiter bringen.
Beim Jazz hat es irgendwann geklappt. Heute kommt niemand mehr auf die Idee, einen Jazzmusiker nach afrikanischen Vorfahren, nach seinen Erfahrungen mit Apartheid und nach seinen Sprachkenntnissen bzgl. verschiedener afrikanischer Völker zu befragen. Selbst Englischkenntnisse werden nicht zwingend vorausgesetzt. Der Jazz hat sich gelöst von seinen Ursprüngen Spiritual und Gospel, er hat sich weiterentwickelt und ist aus unserer Musik nicht mehr wegzudenken.
Rock, Pop, alle diese Musikarten wären ohne den Jazz nicht oder nicht so zustande gekommen. Neue Impulse können zwar nun durchaus wieder von schwarzen Musikern kommen, vielleicht aber auch wie in den 50er Jahren aus Europa, vielleicht demnächst auch mal aus China? Das ist ganz offen, niemand kann es vorhersagen, und das ist gut so. Auch dass heute Gospel und Spiritual wieder sehr beliebt sind, ist letztlich der Popularität des Jazz zu verdanken.
Kann Klezmermusik eine ähnliche Karriere machen? Vielen Menschen erscheint der Gedanke sicherlich ketzerisch, aber ich bin überzeugt davon, dass die Klezmermusik eine ganz wichtige Rolle bei der Entwicklung unserer Musik spielen kann, wenn wir das vielfältige Potential, das sie bietet, nutzen.
Ein letzter Vergleich mit dem Jazz sei mir gestattet: Improvisation und Swing, die wir heute als die wichtigsten Jazzelemente erachten, kamen bei den Wurzeln des Jazz noch gar nicht vor. Sie wurden von den Musikern nach und nach entwickelt. Die Wurzeln lieferten "nur" das Ausgangsmaterial. Heute bin ich sicher: Das größte ungenutzte Potential der Klezmermusik steckt in Kli Zemer. Traditionspflege ist nichts schlechtes, sie ist wichtig, denn ohne diese Pflege geht Wissen verloren. Aber mit Kli Zemer können wir mehr als Tradition pflegen: wir können die Zukunft gestalten.

Holocaust und Klezmer

Viele Klezmermusik-Veranstaltungen finden im November statt. Viele nehmen Bezug auf den 9. November, die sogenannte Reichspogromnacht, viele auf die Schrecken des Naziterrors.
Manche werfen mir vor, dass ich bei meinen Konzerten und Workshops nicht oder zu wenig auf den Holocaust eingehe. Ich werde es auch weiterhin nicht tun.
Keine Schwarzbrotkultur, kein erhobener Zeigefinger!
Unsere Zuhörer sollen zu einem erbaulichen Konzert kommen, nicht zu einem Bußgottesdienst.
Wir wollen kein Entsetzen über untergegangene Traditionen verbreiten, sondern Freude über das, was da ist.
Klezmermusik wurde in Deutschland bereits im 12. Jahrhundert gespielt und es bedarf wirklich keines 9. Novembers, um diese Musik oder das, was wir heute daraus machen, schön zu finden. Außerdem kann niemand die grausigen Verbrechen des Holocaust oder all die anderen Gräueltaten, die man Juden, Sinti, Roma und anderen Gruppen immer wieder angetan hat, gutmachen, indem er Klezmer-, Sinti- oder Romamusik hört oder spielt.
Wir Musiker können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, wir können lediglich dazu beitragen, dass Menschen sich gemeinsam freuen und die Zukunft unverkrampfter sehen. Wir können mit der Idee von Kli Zemer zeigen, dass das Leben trotz Euro und Arbeitslosigkeit etwas schönes zu bieten hat.
Wir können als Musiker zeigen, dass es schön ist, etwas gemeinsam zu erleben, dass ein kulturelles Gut wie Musik reicher wird, wenn es über den Tellerrand der eigenen Kultur hinausgetragen werden.
Und vielleicht ist das ja gar nicht so wenig.

© 2002 by Helmut Eisel . All rights reserved.; Disclaimer
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